Juhuia, die Welt geht unter
Kaum ein Wort verstanden. Für politisches Kabarett aus dem Baltikum fehlt in Bern einfach das nötige Vorwissen. Kommt dazu, dass die Mehrheit des hiesigen Publikums nicht sattelfest ist in der estnischen Sprache. Und die Untertitel waren kaum zu lesen, da viel zu schnell und meist verdeckt durch die Schauspieler. Trotzdem war «Nafta!» ein einziger zweistündiger Höhepunkt an intelligenter Unterhaltung.
Eine Glamour-Show
Nafta heisst Öl. Über Öl, die Energiekrise und die galoppierende Marktgläubigkeit der Esten philosophieren und blödeln vier Schauspieler und eine Schauspielerin in dieser bittersüssen Kabarettrevue. Sie verpacken die ganze Misere in eine Glamour-Show in Glitzerkostümen auf einem Laufsteg. Wie bei einer Modeschau. Das Publikum sitzt auf beiden Seiten. Sie tanzen, singen, strippen – und kritisieren die wirtschaftlichen und politischen Zustände in ihrem Land und auf der ganzen Welt.
Theater ist nicht gleich Text
Ihre Bühnenpräsenz ist so überwältigend, dass der Abend auch ohne Textverständlichkeit zum Grosserfolg wird. Die junge Truppe knüpft an die alte Tradition des akrobatischen Körpertheaters an. Eine Tradition, die leider kastriert wurde durch den protestantisch-nationalistischen Unsinn des «Theaters als moralischer Anstalt». Noch heute glaubt der Theaterabonnent, dass Theater zwangsläufig etwas mit Text zu tun habe. Die Gruppe NO99 aus Estland beweist das Gegenteil.
Wobei man sich auch hier an Textfetzen erfreuen kann, die man den hektischen Untertiteln entnimmt. «Es braucht endlich eine vierspurige Autobahn von Tallinn nach Tartu, schliesslich fahren nur alte Frauen im Zug von Pólva nach Paide.» Was gedruckt wie banaler Dadaismus wirkt, führt zusammen mit dem Spiel von NO99 zu Heiterkeitsstürmen. Dabei klaffen die gesprochenen Pointen und die Lacher zeitlich auseinander, weil erst die Übersetzung gelesen werden muss. Das verwirrt die Schauspieler etwas. Doch in bester Stegreiftheater-Manier gehen sie darauf ein und lesen manchmal die deutschen Untertitel gleich selber vor.
Reality-TV
Energiekrise, Raubtierkapitalismus, ein beknackter US-Präsident: Die Welt ist schlecht. Aber auch wir sind schlecht. NO99 sind keine verbissenen Weltverbesserer, sondern beste Unterhalter. Sie halten nicht den Zeigefinger hoch. Und immer wenn einer der Darsteller an der Aussichtslosigkeit zu zerbrechen droht, dann hilft das Zauberwort des Abends. Denn was sagt die Stewardess beim Flugzeugabsturz? «Juhuia.» Ein bisschen Juhui, ein bisschen Halleluja.
Der Abend endet wie der reale Weltuntergang – mit einer Reality-TV-Show. Darin kämpfen die Kandidaten um einen Platz auf der Arche Noah. Juhuia.
Frank Gerber
Berner Zeitung, 7. mai 2007